Mitgefühlsforschung

 

Nachdem Forschungen über Achtsamkeit und Meditation in Wissenschaft, Medizin, Alltag und Therapie seit langem im Trend sind, kann in den letzten 10 Jahren auch ein rasanter Anstieg von Forschungen über das Thema Mitgefühl und Selbstmitgefühl (Mitgefühl für sich selbst) beobachtet werden. Dies ist auch kein Wunder - schließlich gehören Achtsamkeit und Mitgefühl zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

 

Die Wirkungsbereiche von Selbstmitgefühl


Von Interesse ist vor allem, inwieweit Selbstmitgefühl

  • ein Schutzfaktor für den Umgang mit schwierigen Erfahrungen und Stress sein kann,
  • einen Beitrag zur mentalen und körperlichen Gesundheit und Gesunderhaltung leistet,
  • sich auf die Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt.

Die fürsorgliche Freundlichkeit zu sich selbst (Selbstmitgefühl) und zu anderen Menschen (Mitgefühl) angesichts schwieriger Erfahrungen wird als ein Puzzleteil im Rahmen der Positiven Psychologie, der psychischen Widerstandskraft (Resilienz) und zur besseren Stressbewältigung und Vorbeugung von Stress und Burnout erforscht. 

 

Positive Korrelationen

Forschungen konnten zeigen, dass Selbstmitgefühl positiv korreliert mit:

  • Wohlbefinden

    Zunahme von Lebenszufriedenheit, Glücksgefühl, Verbundenheit, Selbstvertrauen, Optimismus, Neugier und Dankbarkeit (Zessin, Dickhäuser & Garbade, 2015)
  • Positive Emotionen

    (s.o.)
  • Gesundheit

    Gesünderes Essverhalten, weniger Rauchen, mehr Sport, weniger Alkohol (Terry & Leary 2011)
  • Achtsamkeit

    Selbstmitgefühl scheint ein zentraler Mechanismus für die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Programme zu sein (Kuyken u.a. 2010)
  • Emotionale Intelligenz - Beziehungen und Sorge um andere

    Bessere Liebesbeziehungen (mehr Fürsorge und Unterstützung), mehr Perspektivübernahme, größere Bereitschaft zu vergeben, mehr Mitgefühl und Empathie mit anderen (Neff & Beretvas 2013, Neff & Pommier 2013).
  • Emotionale Resilienz - bessere Bewältigung (Coping)

    bei psychosozialem Stress, Misserfolg, Trauma (Sbarra u.a. 2012, Hiraoka u.a. 2015, Hupfeld und Ruffieux 2011)
  • Stärkeres Immunsystem

    Rückgang von Entzündungsmarkern, die für viele (chronische und psychische) Krankheiten mitverantwortlich sind, Gefühl der Verbundenheit und als positiv empfundene soziale Beziehungen tragen zur Gesunderhaltung und einem stärkeren Immunsystem bei (Gilbert u.a. 2004, Breines u.a. 2014)
  • Lebensqualität

    Sagt besser die Lebensqualität vorher als das Selbstwertgefühl, da Selbstwertgefühl stärker von sozialen Vergleichen und von äußeren Faktoren abhängig ist (z.B. erbrachte Leistungen oder Anerkennung durch andere) und einen größeren Zusammenhang mit Narzissmus aufweist als Selbstmitgefühl (Neff & Vonk 2009)
  • Motivation

    Wunsch zu lernen und zu wachsen, intrinsische Motivation, weniger Versagensängste und Ärger bei Misserfolg (Neff, Hseih, Dejitthirat 2005, Neff 2003, Breines & Chen 2012).
  • Persönliche Verantwortung

    Höhere Gewissenhaftigkeit, höhere Bereitschaft Verantwortung für Fehler zu übernehmen, höhere Bereitschaft sich zu entschuldigen (Neff u.a. 2007, Leary u.a. 2007, Howell u.a. 2011)
  • Weniger Burnout und Fürsorgestress

    In helfenden Berufen, Steigerung von Resilienz und Selbstfüsorge (Raab 2014, Orellana-Rios, Schmidt u.a. (2018)

 

Self-Compassion-Scale von Kristin Neff

Die US-amerikanische Wissenschaftlerin, Dr. Kristin Neff, gehört zu den Pionieren der Selbstmitgefühlsforschung. Zur wissenschaftlichen Erfassung von Selbstmitgefühl entwickelte sie die Self-Compassion-Scale (Selbstmitgefühlsskala) mit den drei von ihr definierten Kernbereichen von Selbstmitgefühl:

  • Achtsamkeit (vs. Überidentifikation)
  • Selbstfreundlichkeit (vs. Selbstverurteilung)
  • Gemeinsame Menschlichkeit (vs. Isolierung)

 

Die Selbstmitgefühlsskala

 

Diese von Kristin Neff entwickelte Selbstmitgefühlsskala wird mittlerweile in den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen sowie in klinischen und therapeutischen Kontexten angewendet. Ihre Aussagekraft und Gültigkeit wurde vielfach empirisch bestätigt. Für die deutsche Version dieser Skala haben Jörg Hupfeld und Nicole Ruffieux, Universität Bern, eine Validierung vorgenommen, also den Nachweis, dass mit dieser Skala zuverlässig ermittelt werden kann, inwieweit Menschen Selbstmitgefühl als innere Qualität aufweisen (s. Referenzen). 

 

Schutzfaktor Selbstmitgefühl

 

Die Wissenschaftler zeigen weiter auf, dass Selbstmitgefühl ein wirksamer Schutzfaktor im Umgang mit negativen Ereignissen ist. Durch Trainings zum Selbstmitgefühl erfolgen demnach positive kognitive Umstrukturierung, die zu folgenden Effekten bei den TeilnehmerInnen führten: 

  • größerer Abstand zu unangenehmen Erfahrungen und eigenen Schwächen
  • Abnahme gedanklicher Beschäftigungen mit unangenehmen Erfahrungen und Schwächen
  • Abnahme defensiver Abwehrreaktionen
  • Abnahme starker negativer emotionaler Reaktionen
  • Zunahme an Verantwortung für den eigenen Beitrag an der Verursachung der negativen Ereignisse
  • größere Motivation aus Erfahrungen zu lernen

Selbst-Test von Kristin Neff

 

Wenn Sie wissen möchten, wie hoch Ihr eigenes Level an Selbstmitgefühl ausgeprägt ist, können Sie auf der Seite von Kristin Neff einen Selbst-Test durchführen (englischsprachig). Auf der Website von Kristin Neff finden Sie auch einen sehr großen Überblick über englischsprachige Forschung zum Selbstmitgefühl. (s. Referenzen)

E-Book Mitgefühl in Alltag und Forschung

Die beiden Wissenschaftler*innen Prof. Dr. Tania Singer und Dipl.-Psych. Matthias Bolz haben in dem kostenlosen E-Book "Mitgefühl in Alltag und Forschung" (s. Referenzen) einen sehr umfangreichen und unglaublich wertvollen Schatz an Erkenntnissen über Mitgefühl gesammelt, sowie bestehende säkulare Trainingsprogramme, den aktuellen Stand der Wissenschaft sowie Erfahrungsberichte aus der Praxis in einem einzigen Buch zusammen geführt. 

 

Film von Tania Singer und Olafur Eliasson

Gemeinsam mit dem Künstler Olafur Eliasson hat Tania Singer auch einen schönen Film über Mitgefühl gedreht: Raising Compassion. Neurowissenschaftler, Psychologen und buddhistische Mönche kommen in diesem Film zum Gespräch und tauschen sich über ihre Vorstellungen und Erfahrungen mit Mitgefühl in ganz verschiedenen Lebensbereichen aus. Der Film ist nur englischsprachig anzuschauen. 

 

Das ReSource Projekt am Max-Plack-Institut Leipzig

Das ReSource-Projekt ist eine große und weltweit einzigartige Studie zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen mentalem Training und seinen Auswirkungen auf die psychische, mentale Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden, sowie soziale Kompetenzen

 

Initiatorin Prof. Dr. Tania

Es wurde initiiert von Prof. Dr. Tania Singer, Direktorin der Abteilung Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und wird gefördert mit Mitteln des Europäischen Forschungsrats sowie der Max-Planck-Gesellschaft. Eingerahmt war es in den Forschungsschwerpunkt Plastizität (Veränderbarkeit) des sozialen Gehirns, in dem die Lern- und Entwicklungsfähigkeit unseres sozialen Gehirns untersucht wird.

 

Elf Monate Forschungszeit

Insgesamt 11 Monate lang wurden interessierte Laien mit einem breiten Spektrum an westlichen und östlichen Methoden der Geistesschulung systematisch vertraut gemacht. Dabei ging es in den drei Modulen "Präsenz", "Perspektivübernahme" und Affekt" um die Entwicklung von Fähigkeiten wie

  • Aufmerksamkeit
  • Körper- und Selbstwahrnehmung
  • gesunde Emotionsregulation
  • Selbstfürsorge
  • Empathie
  • Mitgefühl
  • Perspektivübernahme

Module: Präsenz, Perspektivübernahme, Affekt

Im Modul "Präsenz" wurde die grundlegende Methode und Haltung der Achtsamkeit gegenüber geistigen und körperlichen Prozessen eingeübt, z.B. durch Atemmeditation und Bodyscan.  Das Modul "Perspektivübernahme" zielte auf die Entwicklung von sozio-kognitiven Fähigkeiten wie die Einsicht in die Natur von Gedanken, des Selbst sowie die Fähigkeit, die Perspektive anderer Menschen einnehmen und erkennen zu können. Hier wurde in Meditationsübungen die Achtsamkeit auf eigene Gedanken, sowie in Meditationsübungen zu zweit das achtsame Sprechen und Zuhören trainiert (Dyaden-Meditation). Im Modul "Affekt" wurden die Teilnehmer an Methoden eines konstruktiven Umgang mit schwierigen Emotionen herangeführt sowie der Kultivierung positiver Emotionen und Motivationen. Im letzten Modul kamen Übungen zum Einsatz, die auf klassische Meditationen zur Kultivierung von Selbstmitgefühl, Mitgefühl und Liebender Güte (Metta) basieren: Herzmeditation und affektive Dyaden-Meditationen zu zweit über positiv und negativ erlebte Erfahrungen.

 

Studienergebnisse

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass alle drei Übungsmodule die Körperwahrnehmung steigerten und das subjektive Empfinden von sozialem Stress senkten. Wurden die hormonellen Stressreaktionen, die ganz autonom im Körper ablaufen, untersucht, so zeigte sich interessanterweise, dass sich diese nur durch die Module "Perspektivübernahme" und "Affekt", vor allem durch die Meditationsübungen zu zweit (Dyaden-Meditationverringerten. Wie erhofft, wurde durch das Modul Perspektivübernahme die Fähigkeit verbessert, sich in andere hineinzudenken, sowie durch das Modul "Affekt", mit anderen mitzufühlen

 

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Referenzen: Wissenschaftler*innen, Projekte  & Publikationen

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Forschung über Achtsamkeit & MBSR

Was ist Selbstmitgefühl?


Einzelnachweise: Wirkungen von Selbstmitgefühl

Die folgenden Nachweise beziehen sich auf die o.g. Wirkungen von Selbstmitgefühl. Sie finden die meisten dieser Referenzen u.v.m. auch auf der umfangreichen Publikationsliste von Kristin Neff, die zu den Pionieren der Selbstmitgefühlsforschung zählt, und die zusammen mit Chris Germer das 8-wöchige Trainingsprogramm Mindful Self-Compassion (MSC) entwickelt hat.

  • Breines & Chen (2012) Self-compassion increases self-improvement motivation. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 38(9), 1133-1143.
  • Breines u.a. (2014) Self-Compassion as a predictor of interleukin-6 response to acute psychosocial stress. In: Brain, Behavior and Immunity, 37, 109-114.
  • Gilbert u.a. (2004) Life events, entrapments and arrested anger in depression. In: Journal of Affective Disorders, 79(1), 149-160.
  • Hiraoka u.a. (2015) Self-compassion as a prospective predictor of PTSD symptom severity among trauma-exposed U.S. Iraq and Afghanistan war veterans. In: Journal of Traumatic Stress, 28, 1-7.
  • Howell u.a. (2011) The disposition to apologize. In: Personality and individual Differences, 51(4), 509-514.
  • Kuyken u.a. (2010) How does mindfulness-based cognitive therapy work? In: Behavior Research and Therapy, 48, 1105-1112.
  • Leary u.a. (2007) Self-compassion and reactions to unpleasant self-relevant events: The implications of treating oneself kindly. In: Journal of Personality and Social Psychology, 92, 887-904.
  • Neff (2003) Development and validation of a scale to measure self-compassion. In: Self and Identity, 2, 223-250
  • Neff & Beretvas (2013) The role of self-compassion on romantic relationships. In: Self and Identity, 12(1), 78-98
  • Neff, Hseih, Dejitthirat (2005) Self-Compassion, achievement goals, and coping with academic failure. In: Self and Identity, 9, 263-287.
  • Neff & Pommier (2013) The relationship between self-compassion and other-focused concern among college underrates, community adults, and practioning meditators. In: Self and Identity, 12(2), 160-176.
  • Neff u.a. (2007) An examination of self-compassion in relation to positive psychological functioning and personality traits. In: Journal of Research in Personality, 41, 908-916.
  • Neff & Vonk (2009) Self-compassion versus global self-esteem: Two different ways of relating to oneself. In Journal of Personality, 77, 23-50.
  • Orellana-Rios, Schmidt u.a. (2018) Mindfulness and compassion-oriented practices at work reduce distress and enhance self-care of palliative care teams: a mixed-method evaluation of an “on the job“ program. In: BMC Palliative Care 17(3), 
  • Raab (2014) Mindfulness, Self-Compassion and Empathy among Health Care Professionals: A Review of the literature. In: Journal of health care chaplaincy, 20(3), 95-108.
  • Sbarra u.a. (2012) When leaving your Ex, love yourself: Observational ratings of self-compassion predict the course of emotional recovery following marital separation. In: Psychological Science, 23(3), 261-269. 
  • Terry & Leary (2011) Self-compassion, self-regulation and health. In: Self and Identity, 10(3), 352-362.
  • Zessin, Dickhäuser & Garbade (2015) The Relationship Between Self-Compassion and Well-Being: A Meta-Analysis. In: Applied Psychology: Health and Well-Being, 7(3), 340-364.